
Wer mit dem Flugzeug Barcelona anfliegt und bei klarer Sicht aus dem Fenster schaut, dem dürften die drei gigantischen Schornsteine auffallen, die etwas weiter nördlich der Innenstadt in den Himmel ragen. Der Komplex ist das ehemals wichtigste Elektrizitätswerk der Region, das im zwanzigsten Jahrhundert unter dem Namen La Canadenca oder auch Die Sagrada Familia der Arbeiter bekannt war. Der erste der drei Schlote wurde 1896 gebaut, 1908 und 1912 folgten die anderen beiden. Jeder Kamin ist 72 Meter hoch.
Im September 2024 bin ich mit Lea an einem sonnigen Tag auf dem Weg nach Badalona zu diesen drei Türmen. Wir gehen am Strand entlang und nähern uns von der Metrostation El Maresme zu Fuß. Dabei kommen wir an riesigen Industrieanlangen ganz nah am Meer entlang. Von hier aus wirken die Türme schon gigantisch, es kommt mir vor, als würden wir dem Betonriesen nicht wirklich näher kommen.
Und dann passieren wir doch das durch die Manifesta zugänglich gemachte Gelände, auf dem die Tres Xemeneies stehen. Es ist das allererste Mal, dass diese alte Anlage zugänglich ist, man hat 25 Jahre dafür gekämpft, sie umnutzen zu dürfen.


Ich bin absolut euphorisch, weil ich das Betreten der Tres Chimeneyes mit einem Aha-Erlebnis verbinde: Ich realisiere zum Einen, dass alte, ungenutzte Orte spannende Geschichten erzählen und zum Anderen, dass diese Gechichten quasi dazu einladen, durch kulturelle Nutzung dieser Orte erzählt und weitergedacht zu werden.
Genau das macht die Manifesta zwar auf sensible und gleichzeitig kraftvolle Art und Weise. Der Ort an sich wird zum Thema, es wird nichts übergestülpt, sondern es braucht garnicht viel Intervention. Die künstlerischen Arbeiten nutzen die Gegebenheiten, interpretatieren sie, verstärken ihre Wirkung. Die auffälligste Arbeit sind die weissen Tücher, die in langen Bahnen von der Decke der riesigen Halle herunterhängen und im Durchzug des Windes tanzen. Das schafft einen großen Kontrast zu den harten und statischen Strukturen aus Stahl und Beton.
Für mich stellt der Besuch der Tres Ximeneies ein wichtiges Learning dar: Dass totgeglaubte Orte unheimlich lebendig sein können, wenn sie kulturell bespielt werden, dass diese Orte unbezahlbar sind und dass ihre Geschichten darauf warten, erzählt zu werden.

Ich erspüre aber auch noch ein anderes, geheimnisvolles, fast religiöses Gefühl in mir: An diesem Ort, in genau diesem Moment wirkt der Geist der Manifesta: Ein verlassener, unzugänglicher Ort, wird erschlossen, wird wiederbelebt, wird kultiviert, wird mit Kunst bespielt. Die Menschen entdecken überrascht den Wert von etwas, das sie vor langer Zeit fallengelassen und vergessen haben.
Wenn ich heute an Barcelona zurückdenke, herrscht diese Erinnerung vor.
Published Dec 11, 2024 by Tim Rodenbröker
Last update Dec 11, 2024