Gedanken zu einfacher Technologie


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Intro 🔗

Vor einiger Zeit bekam ich von meiner Mutter ein altes Macbook Air aus dem Jahr 2011 geschenkt. Das Teil war im Grunde unbrauchbar, weil sich das Betriebssystem nicht mehr aktualisieren ließ und wichtige Anwendungen wie der Webbrowser nicht mehr funktionierten. Zuerst dachte ich, das Gerät sei jetzt nur noch ein Stück Schrott. Aber dann fand ich es wirklich schade und dachte darüber nach, wie ich es retten könnte.

Ich fand einen Weg: Der Trick war, ein Open-Source-Betriebssystem zu installieren. Davon gibt es jede Menge, ich habe mich für Ubuntu entschieden, weil es der Benutzeroberfläche und den Funktionen von Mac OS sehr ähnlich ist. Zugegeben, die Installation war etwas umständlich, ich musste einen USB-Stick mit einer großen Datei bespielen und dann das MacBook mit einer speziellen Tastenkombination neu starten, um es von diesem Stick zu booten. Aber nachdem ich ein paar zusätzliche Programme hinzugefügt hatte, stand ein voll funktionsfähiger Computer auf meinem Schreibtisch, der mich keinen Cent gekostet hat. Ich war absolut begeistert.

Anders denken 🔗

Diese Erfahrung hat bei mir einen Schalter umgelegt und ich begann sofort, Blogs über Linux und Open-Source-Software zu durchstöbern. Eines Tages stieß ich auf einen Artikel auf lowtechmagazine.com in dem der belgische Journalist Kris de Decker berichtet, wie er seit mehr als 10 Jahren keine neuen Computer mehr kauft und ausschließlich auf alten IBM Thinkpads arbeitet. Die alten Modelle, die man im Internet für wenig Geld gebraucht kaufen kann, sind noch so stabil und modular, dass sie recht einfach repariert werden können (link).

lowtechmagazine.com

Mit der Entdeckung dieses Blogs habe ich einen Themenkosmos gefunden, der mich in den nächsten Jahren beschäftigen und begeistern sollte. Es gab folgendes Problem: Ich hatte zuvor eine Reihe von Büchern gelesen, die den ganzen Schlamassel der Technologisierung von allen Seiten beleuchteten und die letztlich nur einen Schluss zuließen: Wir sind am Arsch. Aber das wollte ich nicht akzeptieren. Ich denke, es ist viel einfacher zu sagen, dass wir am Arsch sind, als konstruktive Vorschläge zu machen, auch wenn sie vorerst nur im kleinen Rahmen funktionieren und/oder mit Opfern und Einschränkungen verbunden sind. Und genau das tut Kris de Decker, der seit 17 Jahren kritisch und konstruktiv über Technologie schreibt. „Low Tech Lösungen für „High Tech Probleme“. Das Themenspektrum ist eng verknüpft mit Post-Growth-Ideen. De Decker schlägt Lösungen vor, wie ein Leben mit einfacherer Technik in der Praxis aussehen könnte.

Das Low Tech Magazine gibt es hier auch gedruckt.

Eine weitere interessante Entdeckung machte ich im Archiv der deutschen Zeitschrift Kunstforum International, die über eine Ausstellung mit dem Titel „Low Tech“ in der Shedhalle Zürich im Jahr 2000 berichtete (link). Hier fand ich eine Brücke zu den Bereichen Kunst und Design.

Lowtech ist die lässige Antwort auf die Mythen der Technologie und die Bedürfnisse, die eine mit ihr verbundene Industrie wecken will. Lowtech dient also keineswegs nur als billiger Ersatz für aufwändigere Technik, sondern macht Praktiken zugänglich, die in der Fixierung auf das jeweils Neueste und Teuerste regelmäßig verschüttet wird. (Quelle).

Die in Sheffield ansässige Künstlergruppe „Redundant Technology Initiative“, die mit ihren Werken in der Ausstellung vertreten war, veröffentlichte 1999 ein Lowtech Manifesto, das immer noch online verfügbar ist. Dieses Dokument hat mir als Designer geholfen, ein paar Fragen zu beantworten.

Hightech-Kunstwerke vermarkten neue PCs. Auch wenn sie das nicht beabsichtigen. Kunstwerke, die sich neuer, teurer Technologie bedienen, können nicht verhindern, dass sie zum Teil als Verkaufsdemonstrationen dienen. Ein Teil der Botschaft eines Online-Videostreams, unabhängig von seinem Inhalt, lautet: „Hey, ist es nicht Zeit für ein Upgrade?“. (Quelle, übersetzt.)

High-Tech-Kunst und -Ästhetik verkaufen also (oft ungewollt und sehr erfolgreich) die neueste Technologie. Ein weiterer Absatz:

Hightech ist nicht gleichbedeutend mit hoher Kreativität. Tatsächlich führen manchmal die Einschränkungen eines Mediums zu den kreativsten Lösungen. (Quelle, übersetzt.).

Bei der Entwicklung von Low-Tech-Ideen geht es darum, mit begrenzten Ressourcen und technischen Einschränkungen zu arbeiten, was letztlich die Kreativität steigert.

Monica Losada

Das erinnert mich an die Grafikdesignerin Monica Losada. Sie entwickelte zusammen mit Josu Larrea im Jahr 2021 ein experimentelles Buchprojekt, das sich mit dem „Tool Horizon“ (ein von Petr van Blokland geprägter Begriff) von Open-Source-Designsoftware befasste. Im Wesentlichen zeigt die Publikation eine breite Palette von grafischen Experimenten, die mit frei zugänglichen Tools erstellt wurden. Manchmal hat sie auch Software zweckentfremdet: einige ihrer Arbeiten, darunter ihr Beitrag für das DEMO Festival, wurden mit Microsoft Excel erstellt.

In den Arbeiten von Monica Losada taucht etwas Besonderes auf, das ich als „authentische Low-Tech-Ästhetik“ bezeichnen würde. Monica hat den harten Weg gewählt, bewusst ausgewählte, sehr begrenzte Tools verwendet und so ein Ergebnis erzielt, das gerade wegen dieser inhärenten kreativen Geste eine starke Aura ausstrahlt. Künstliche Low-Tech-Ästhetik mit professioneller Software wie der Adobe Creative Cloud zu erzeugen, ist ziemlich einfach. Aber dann fehlt es an Authentizität. Die Aura von Low-Tech beginnt zu strahlen, wenn sie mit einem bewussten Umweg, einem Workaround, kombiniert wird.

Ursprünge? 🔗

Tausendfüßler haben unzählige Füße und sind doch die langsamsten aller Kriechtiere. (Frei übernommen von Dio Chrysostomus, Quelle)

Hier fällt mir plötzlich eine interessante Assoziation auf, der ich gerne weiter nachgehen möchte. Vielleicht entspringt die Low-Tech-Philosophie einer Denkweise, die weit in die Geschichte zurückreicht und die sich bei Sokrates (469 v. Chr. - 399 v. Chr.) findet. Dieser fröhliche Minimalist wanderte über die Plätze von Athen und verwickelte die Menschen der Stadt in fragende Gespräche, in denen er ihre Grundannahmen aufdeckte. Das Ergebnis dieser Gespräche war in der Regel die Erkenntnis, dass sie mit ihren weit verbreiteten Überzeugungen falsch lagen. Sokrates könnte auch, etwas vereinfacht, als Ursprung des Skeptizismus bezeichnet werden.

In den folgenden Jahren, Jahrzehnten und Jahrhunderten entstanden aus diesem Denken neue philosophische Zweige, die diesen Faden weiter spannen. In der hellenistischen Periode waren die wichtigsten Denkschulen stark vom sokratischen Denken inspiriert und ähnelten sich in ihren Grundüberzeugungen, aber jede suchte und fand ihre eigenen Wege, den Skeptizismus des Sokrates in die Praxis des Lebens umzusetzen.

Eine Figur, die mir im Zusammenhang mit Low-Tech in den Sinn kommt, ist Diogenes von Sinope. Er lebte genügsam in einem hölzernen Gefäß und lehnte jede Art von Luxus konsequent ab, obwohl er als Philosoph und Schriftsteller auch ganz anders hätte leben können. Es gibt diese eindrucksvolle Legende vom Kriegsherrn Alexander dem Großen, der den Asketen auf der Straße ansprach und ihn nach einem Wunsch fragte, den er ihm erfüllen wollte. Diogenes’ Antwort war einfach: „Geh mir ein bisschen aus der Sonne“.

Alexander und Diogenes von Nicolas Andre Monsiau, 1818, (Quelle)

Outro 🔗

Wie so oft war es wieder einmal ein scheinbar unbedeutendes Ereignis, das einen folgenschweren Gedankengang auslöste. Der sterbende Laptop führte mich über viele spannende Umwege zu der Idee, diesen Blog einzurichten. Jetzt, wo ich denke, dass ich mit diesem Text fertig bin, wird mir klar, was mich an „Low Tech“ besonders fasziniert: Es ist die elegante und lässige Geste, die dahinter steckt.

Published Feb 5, 2024 by Tim Rodenbröker
Last update Mar 20, 2024

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